«Drive My Car»: eine filmische Erkundungsfahrt durch die Psyche (2024)

Ein dreistündiger Arthouse-Film über einen traurigen Theatermann und dessen alten Saab mit Kassettenradio, das ein Stück von Tschechow in der Endlosschleife spielt: Was macht dieses Drama unwiderstehlich?

«Drive My Car»: eine filmische Erkundungsfahrt durch die Psyche (1)

Wie war das noch gleich – die Menschen hätten keine Geduld mehr für anspruchsvolle Stoffe, und für das ernstzunehmende Kino käme jede Hoffnung zu spät? Nach landläufiger Meinung schauen ja alle nur noch Netflix, wo’s den Content auch in anderthalbfacher Geschwindigkeit gibt, und aus dem Haus gehen höchstens noch die Kids, wenn im Multiplex etwas mit Spider-Man läuft.

Aber dann taucht auf einmal in allen erdenklichen Jahresendlisten ein dreistündiger Japaner auf, «Drive My Car» von Ryûsuke Hamaguchi, und beweist, dass Kinostarts eben immer noch einen Buzz kreieren können, so ein verheissungsvolles Summen im cinephilen Bienenstock. Filmveröffentlichungen im Internet sind dagegen Nicht-Ereignisse, niemand fiebert ihnen wirklich entgegen. Da bringt’s der beste Beamer nicht, es fehlt nicht die Leinwand, aber sozusagen der Vorhang davor: Kein Mensch sitzt vor dem Rechner und wartet gespannt, bis bei Netflix eine neue Kachel aufploppt.

Was aber ist das für ein Film, der jüngst von jeder nennenswerten Kritikervereinigung in den USA zum besten Film gekürt worden ist und übrigens auch beim Cineasten Barack Obama zuoberst auf der Liste von Lieblingsfilmen 2021 auftauchte?

Die Frau, die Geschichten gebärt

«Drive My Car» bezieht sich auf eine gleichnamige Kurzgeschichte von Haruki Murakami von 2014. Deren Lektüre erinnert einen zuerst einmal daran, dass die Literaturverlage seinerzeit noch keine «sensitivity readers» beschäftigten, die alles auf sexistische und andere Trigger hin abklopfen: Wie der japanische Bestsellerautor in die Geschichte einsteigt mit Erwägungen zu vermeintlich fragwürdigen Fahrkünsten von Frauen, würde heute von manchen Kreisen kaum ohne Protest hingenommen.

Hamaguchi klebt jedoch nicht an den Seiten der Vorlage: Er hat aus Murakamis Skizzen einen epischen, aber in sich gleichzeitig beeindruckend geschlossenen Film gemacht – gewissermassen einen Zweitürer mit festem Dach, zu dem er ein in der Kurzgeschichte prominent vorkommendes Cabriolet umdeutet. Doch zu diesem kommt er erst später, sein Film fängt nicht mit Frau-am-Steuer-Kram an, sondern mit der Silhouette einer Frau, die sich im Bett aufrichtet. Hinter ihr dämmert der Morgen über Tokio. Dann beginnt sie ihrem Mann eine Geschichte zu erzählen, so, wie sie das immer tut nach dem Liebesakt.

Bei dieser postkoitalen Geschichtenerfinderin handelt es sich um eine Figur aus «Scheherazade», einer weiteren Erzählung aus «Von Männern, die keine Frauen haben». Hamaguchi hat aus dem Band sogar noch eine dritte Kurzgeschichte, «Kinos Bar», in seine Filmhandlung hinein verwoben, sich also recht eklektisch bei Murakami bedient.

Bemerkenswert dabei ist, wie der Film Murakamis mitunter etwas konstruiert und bedeutungsschwer anmutende Prosastücke gerade durch ihre Verknüpfung mit Leben füllt. So handelt es sich, anders als in «Scheherazade», nicht um eine mysteriöse Fremde, die sich die Geschichten ausdenkt. Vielmehr ist es Oto (Reika Kirishima), die Frau des Theatermannes Kaf*cku (Hidetoshi Nishijima), den der Murakami-Leser als die Hauptfigur der «Drive My Car»-Erzählung kennt.

Im Film ist die Sache mit dem Erfinden von Geschichten auch nicht einfach eine erotische Verschrobenheit, sondern hat einen geradezu existenziellen Hintergrund: Oto und Kaf*cku haben tragisch ihre kleine Tochter verloren, nun will Oto keine Kinder mehr. Man könnte sagen: Sie zeugt jetzt Geschichten.

Allerdings nicht nur mit ihrem Ehemann: Eines Tages findet Kaf*cku seine Frau, die beruflich Drehbücher fürs Fernsehen schreibt, im Bett mit einem Schauspieler. Kaf*cku tut aber so, als hätte er nichts gesehen. Und das verfolgt ihn dann: Kurz darauf erleidet Oto nämlich einen Hirnschlag, und Kaf*cku weiss: Er wird nie erfahren, weshalb ihm seine Frau untreu war.

Im Fond sitzt Tsche­chow

Gab es blinde Flecken in der Ehe? Was hat er übersehen? Das ist eine Frage, die sich Kaf*cku konkreter als gedacht stellt, denn nach einem Verkehrsunfall wird ihm ein Glaukom diagnostiziert: Sein Sehfeld ist eingeschränkt. Vom Autofahren rät der Arzt ab. Aber das ist ein echtes Problem für den Schauspieler und Regisseur, der seine Stoffe im geliebten roten Saab 900 Turbo einzustudieren pflegt.

Vor ihrem Tod hatte ihm Oto «Onkel Wanja» auf Kassette eingespro­chen. Seither läuft das Drama im Saab in der Endlosschleife. Auch noch zwei Jahre nach Otos Tod: Kaf*cku hat das Angebot angenommen, bei einem Theaterfestival in Hiroshima ebendieses Stück von Tschechow zu inszenieren. Die Festivalleitung besteht aus versicherungstechnischen Gründen einzig darauf, ihm für die Zeit seines Engagements eine Fahrerin zur Verfügung zu stellen. Jetzt darf Kaf*cku wirklich nicht mehr hinters Steuer.

Stattdessen wird er von der schweigsamen Misaki (Toko Miura) chauffiert, einer jungen Frau mit Basecap, die genauso alt ist, wie Kaf*ckus verstor­bene Tochter es wäre. Auch Misaki, stellt sich heraus, hat ein schweres Schicksal zu verar­beiten; die beiden beginnen, sich einander zu öffnen.

Stehlen und zurücklassen

Aber wieso genau verfolgt man das so interessiert? Weil Hamaguchi die Geschichte geduldig immer weiter auffächert, während er gleichzeitig das menschliche Drama zuspitzt. So trifft Kaf*cku beim Casting für seine «Onkel Wanja»-Aufführung auf jenen jungen Schauspieler (Masaki Okada), der wohl der Liebhaber seiner Frau war. Auch ihm hat Oto offenbar die Geschichte erzählt, die sie Kaf*cku eingangs mit Blick auf Tokio vortrug. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die heimlich in das Haus eindringt, in dem ein Junge lebt, den sie liebt. Die junge Frau stiehlt kleine Dinge von ihm, lässt aber versteckt auch Sachen von sich zurück.

Wie man sich Dinge anderer aneignet, aber auch Spuren im Leben seiner Mitmenschen hinterlässt: Eben davon handelt «Drive My Car». Hamaguchi hat den Tiefsinn der Vorlage festgehalten. Unter der Haube pumpt noch der Murakami-Motor, im Fond sitzt Tsche­chow, aber das Steuer hält der Regisseur, und der lenkt mit ebenso viel Gefühl wie Verstand durch den Film: Wie Misaki, die Kaf*cku im alten Saab niedertourig-geschmeidig die Seto-Binnenmeer-Küste entlang kutschiert, nimmt der Filmregisseur einen mit auf eine Erkundungsfahrt in die Tiefe der menschlichen Psyche. Nach drei Stunden will man gar nicht mehr aussteigen.

«Drive My Car», zurzeit im Kino.

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Michael Streitberg

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